Die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv kennt man in Österreich seit ihren Erfolgen an der Grazer Oper. Mittlerweile ist sie in Bologna die erste Chefdirigentin eines italienischen Opernhauses und wurde bei ihrem Bayreuth-Debüt 2021 als erste Frau am Pult mit dem „Fliegenden Holländer“ umjubelt. Nun kommt sie mit dem von ihr selbst gegründeten Ukrainischen Jugendsinfonieorchester zum Herbstgold-Festival: ein Zeichen der Solidarität mit den Opfern des Krieges und eines friedlichen Miteinanders unter dem Banner der Kunst. Was haben die begabtesten jungen Musikerinnen und Musiker der Ukraine im Notengepäck? Eine Sinfonietta des 1975 geborenen ukrainischen Komponisten Zoltan Almashi; Camille Saint-Saëns’ a-Moll-Cellokonzert, das Kollegen wie Schostakowitsch oder Rachmaninow sogar für das größte und gelungenste Werk seiner Art hielten, mit dem der gefeierte junge ungarische Cellist István Várdai glänzen wird – sowie Antonín Dvořáks Sinfonie „Aus der Neuen Welt“, diese großartige, mitreißende musikalische Brücke zwischen Europa und Amerika, Böhmen und den USA.
Gewidmet der Stadt Mariupol
„Maria’s City“: Damit ist die ukrainische Stadt Mariupol gemeint (ukrainisch: Маріуполь, Marias Stadt), gelegen am Ufer des Asowschen Meeres, an der Mündung des Kaltschyk in den Kalmius. 2018 zählte Mariupol rund 445.000 Einwohner. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges in Februar 2022, ihrer Belagerung, weit reichender Zerstörung mit unzähligen Todesopfern in der Zivilbevölkerung und der Einnahme durch russische Truppen im Mai ist sie zu einem schmerzlichen Symbol dieses Krieges geworden. Den Komponisten und Cellisten Zoltan Almashi kennt die Dirigentin Oksana Lyniv aus den gemeinsamen Studienzeiten. Als Lyniv, durch den Krieg alarmiert, spontan Musik suchte, die die aktuelle Situation wiederspiegeln sollte, meldet sich Almashi bei ihr: Er hatte einen Raketenangriff auf Mariupol mit ansehen müssen. Ende Mai war sein Stück für Streichorchester fertig. Es beginnt mit einer lyrischen Melodie der Soloviola, die keine Volksmusik zitiert, aber so klingt, als wäre es ein ukrainisches Lied. Es folgt ein Allegro in Dur – eine vielleicht überraschende kompositorische Entscheidung, die jedoch aus dem Erlebnis des Angriffs herrührt: aus Erregung, aus dem Gefühl von Irrealität, auch aus der Faszination für die zerstörerische Kraft und die trügerische Sicherheit, in die den Beobachter jene Entfernung gewiegt hat, die nur durch Zufall gegeben war. Es folgt ein hoher Violinton als Zeichen für jenen Tinnitus, den der Lärm der Explosionen und das psycho-physische Echo der Katastrophe hervorrufen. Doch zuletzt macht sich trotz Gewalt und Zerstörung wieder das lyrische Thema das Beginns bemerkbar: Als Zeichen der Hoffnung wächst es als zarte, aber kraftvolle, unauslöschliche Pflanze aus allen Trümmern hervor – wie ein Gebet.